Offener Brief führender Jobcenter-Personalräte
als Reaktion auf die unverschämten Lügen des Vorstandes der Bundesagentur
für Arbeit
in der
Reportage
Team Wallraff undercover im Jobcenter vom 16.03.2015:
Quelle:
RTL >>
19.03.2015
Sehr geehrte Herren Weise, Alt und Becker,
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Ihre o.g. Mitteilung hat in den Jobcentern empörte
Reaktionen hervorgerufen. Reihenweise melden sich Kolleginnen und
Kollegen, für die es tagtägliche Realität ist, dass ihre Arbeit
„anstrengend und belastend“ ist und nicht nur „sein kann“ – und das
ununterbrochen seit Bestehen der Jobcenter und nicht nur temporär. Das
wurde und wird auch immer wieder zur Sprache gebracht, sowohl von den
Kolleginnen und Kollegen selbst, als auch von ihren gewählten
Personalräten und nicht zuletzt auch von der Arbeitsgruppe der
Personalratsvorsitzenden der Jobcenterpersonalräte.
Umso erstaunlicher muss es da erscheinen, dass „gute
Arbeitsbedingungen“, die Sie als Ihnen „wichtige Anliegen“ bezeichnen,
auch nach 10 Jahren Jobcenter noch immer nicht vorherrschen. Wenn Sie
schreiben, „ändern können wir nur die Dinge, von denen wir wissen“,
suggerieren Sie, Sie hätten von den in der o.g. Sendung zur Sprache
gebrachten Sachverhalten bisher nichts erfahren. Das wäre allerdings
noch verwunderlicher. Denn auf Personalmangel, hohe
Arbeitsbelastungen, hohen Krankenstand, Mängel in der Qualifizierung
des Personals, hohe Fluktuation und die Problematik der durch die
Befristungspraxis zusätzlich verstärkten Belastungen wurde von den
Personalräten immer wieder hingewiesen. Und dass die von den
Jobcentern eingekauften Maßnahmen nicht immer zielführend waren, hat
Ihnen bereits Ihr IAB ins Stammbuch geschrieben.
Abgesehen davon erschiene ein Vorstand, der nicht weiß,
was in dem von ihm zu verantwortenden Bereich vor sich geht, nicht
gerade in einem guten Licht. Das wäre auch nicht besser, wenn man
annehmen müsste, er wolle die Realität auch gar nicht zur Kenntnis
nehmen. Vielleicht bietet die o.g. Sendung ja die Chance, über
grundlegende Probleme endlich konstruktiv ins Gespräch zu kommen und
zu tatsächlichen Änderungen zu gelangen.
So „wünschen“ Sie sich „eine offene und sachliche
Diskussion in den Jobcentern, in den Medien, in Politik und
Gesellschaft“. Diesem Wunsch entsprechend geht diese Stellungnahme
nicht nur an Sie, sondern auch an die interessierte Öffentlichkeit.
Die grundlegenden Problemlagen sind aus Sicht der
Jobcenterpersonalräte folgende: |
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Das eingesetzte Personal reicht nicht aus, um die
Aufgaben zu bewältigen. Vor allem im Leistungsbereich wird das
Personal regelrecht verheizt. Permanente Überlastung führt zu hohen
Krankheitsraten und einer hohen Fluktuation. Die Befristungspraxis
verstärkt diese Probleme noch. Gleichzeitig werden dem vorhandenen
Personal immer mehr Aufgaben bzw. Arbeitsanweisungen aufgeladen
(Umstellung auf ALLEGRO, 4-Augen-Prinzip, demnächst E-Akte). In der
Folge wird die Funktionsfähigkeit des Sozialstaats faktisch in Frage
gestellt. Es gelingt immer seltener, allen Leistungsberechtigten die
ihnen zustehenden Mittel rechtzeitig und verlässlich zur Verfügung zu
stellen (von anderen Aufgaben des Leistungsbereichs ganz zu
schweigen). |
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Auch im Bereich der persönlichen Ansprechpartner reicht
das Personal nicht aus, für alle Leistungsberechtigten eine
individuelle und qualifizierte Beratungsleistung zu erbringen. Eine
solche Beratungsleistung erfordert Zeit, auf die individuellen
Problemlagen angemessen eingehen und ein Vertrauensverhältnis aufbauen
zu können. Denn es ist in der überwiegenden Zahl der zu Beratenden
nicht mit einer reinen Vermittlungstätigkeit getan. Zum Einen liegen
die Erwartungen der Arbeitgeber, die Stellenangebote unterbreiten,
jenseits dessen, was die von uns Beratenen auf absehbare Zeit zu
erfüllen vermögen und zum anderen stellt sich in einer wachsenden Zahl
der Beratungsfälle die Frage nach der Integration in den Arbeitsmarkt
nicht als vordergründige, sondern allenfalls als Fernziel dar – zu
sehr bestimmen andere soziale Problemlagen Lebenswirklichkeit und
Lebenseinstellung der Beratenen. |
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Schon in der von Ihnen vorgegebenen Zielorientierung
mit der Fokussierung auf die Arbeitsvermittlung liegt daher ein
gewisses Maß an Negierung der Realitäten. Das führt bei den
persönlichen Ansprechpartnern zu einem ständigen Zielkonflikt und
stellt, wie z.B. die abba-Befragung in einigen Jobcentern gezeigt hat,
einen hohen psychischen Belastungsfaktor in diesem Bereich dar. Die
Implementierung des Vier-Phasen-Modells in die Software Verbis und die
darauf aufbauende Schulungsreihe Beko haben das nicht besser gemacht.
Schon die Vorstellung, man könne in individuelle Beratungsgespräche
auf sinnvolle Weise zentral steuernd eingreifen, entbehrt nicht einer
gewissen Absurdität. Die Vorstellung, man könne auf der Grundlage
subjektiver Profilingeinschätzungen, die persönliche Ansprechpartner
im Gespräch mit den von Ihnen Beratenen treffen, belastbare objektive
Planungen anstellen und Steuerungsentscheidungen treffen, grenzt an
organisierten Selbstbetrug. |
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Gleiches gilt für das Steuerungssystem der BA, das auch
den Jobcentern übergestülpt wurde. Die Orientierung an scheinbar
objektiven Zielzahlen und statistischen Erfolgswerten, führt
mindestens im Beratungsbereich zu einer Fehlorientierung, denn eine
gute Beratungsleistung lässt sich nicht in Massenzahlen abbilden.
Gleichzeitig sorgen Zielvorgaben und parallel dazu die Ausrichtung der
Führungskräfte auf die Erfüllung dieser Zielvorgaben über
Beurteilungssystem und Leistungsprämien dafür, dass auf die
Beschäftigten ein irrationaler Druck ausgeübt wird. Neu ist dieses
Thema nicht. Auch der Bundesrechnungshof hat sich ja bereits dazu
geäußert. |
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Darüber hinaus muss dieses, der gewerblichen Wirtschaft
entlehnte und für unsere nicht marktfähigen sozialstaatlichen Aufgaben
ungeeignete Steuerungssystem zwangsläufig zu einem gewissen
Realitätsverlust an der Spitze führen. Wer von seinen Untergebenen im
Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung nur erwartet, die eigenen
Zielerwartungen erfüllt und damit bestätigt zu sehen, umgibt sich mit
bezahlten Claqueuren und darf sich nicht wundern, wenn sich von diesen
keiner traut, festzustellen, dass der König nackt dasteht, statt im
schönen neuen Gewand. |
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Diesem fehlgeleiteten Steuerungssystem ist es auch zu
verdanken, wenn eingekaufte Maßnahmen von den Teilnehmern als wenig
zielführend oder gar kontraproduktiv erlebt werden. Es ist durchaus
vorstellbar, dass es arbeitslose Menschen gibt, die aufgrund
schlechter Erfahrungen ein stark negatives Selbstwertgefühl entwickelt
haben und mit sozialen Ängsten beladen sind, für die es ein sinnvoller
Ansatz sein kann, Lamas durch die Landschaft zu führen, damit sie über
die Verantwortung für das Tier wieder Zutrauen zu sich selbst
entwickeln und in der Interaktion mit den anderen Teilnehmern ihre
Ängste überwinden können. Für jeden Arbeitslosen ist das allerdings
nichts. Es kommt also auf die Passgenauigkeit des Maßnahmeangebots an.
Kann die nicht gewährleistet werden, weil die Zeit für ein
individuelles Beratungsgespräch nicht da ist oder weil es einen Druck
gibt, eingekaufte Maßnahmeplätze auch zu besetzen, selbst wenn aktuell
nicht der passende Bewerber am Schreibtisch sitzt, kommt es
notwendigerweise zu Fehlbesetzungen und in der Summe zu Misserfolgen. |
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Uns ist bewusst, dass die Ursachen für die
geschilderten Problemlagen unter anderem auch in der Politik zu suchen
sind. Wir hoffen dennoch, durch diese nur knapp umrissene Aufzählung
den Teil der Verantwortung verdeutlicht zu haben, den wir bei Ihnen
sehen. Grundlegende Veränderungen sind aus unserer Sicht überfällig.
Um auf Ihre o.g. Mitteilung zurück zu kommen: wir sind gern bereit,
„gemeinsam mit Ihnen nach guten Lösungen“ zu suchen. |
Mit freundlichen Grüßen
Barbara Oer-Esser,
stellv. Vorsitzende der Jobcenterpersonalräte
Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes der Jobcenterpersonalräte
Gerd Zimmer
Eva Schmauser
Moritz Duncker
Mitglieder des geschäftsführenden Vorstandes der Jobcenterpersonalräte
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