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"Rücknahme" statt Aufhebung zu hoher Sanktionen -

Weisung der BA verstößt gegen die Randnummer 222 im Urteil des BVerfG



Mit seinem Urteil vom 05.11.2019 hat das BVerfG Sanktionen über 30 Prozent des Existenzminimums für verfassungs-widrig erklärt.

S. BVerfG, Urteil vom 05.11.2019

Für höhere bereits verhängte Sanktionen, soweit sie noch nicht bestandskräftig sind, hat es in Randnummer 222 seines Urteils verfügt:

"Zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung nicht bestandskräftige Bescheide über Leistungsminderungen nach § 31a Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB II, sind, soweit sie über eine Minderung in Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen, aufzuheben."

S. BVerfG, Urteil vom 05.11.2019 , Randnummer 222

Am 03.12.2019 hat die Bundesagentur für Arbeit (BA) eine Umsetzungsregelung zu Randnummer 222 im Urteil des BVerfG verfügt:

S. https://www.arbeitsagentur.de/datei/ba900098.pdf

Die Ausführung unter I.4.b) lautet (s.S. 5)

"Nicht bestandskräftige Verwaltungsakte sind in den Fällen des § 31a Absatz 1 Satz 2 und 3 und Absatz 2 SGB II (über 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs) mit Wirkung für die Vergangenheit (auch für die Zeit vor der Entscheidung) – unabhängig vom eingelegten Rechtsbehelf oder der Prüfung von Amts wegen – zurückzunehmen, soweit die Minderung über 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs hinausgeht." (Sperrung RB)

S. "Weisung 201912003 vom 03.12.2019 – Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Minderungsvorschriften"
https://www.arbeitsagentur.de/datei/ba900098.pdf , S. 5, Absatz I.4.b)

Es sollen also die entsprechenden Bescheide nur "zurückgenommen",
aber nicht gemäß Urteil des BverfG in Rn. 222 "aufgehoben" werden.

 

Worin besteht nun die juristische Unterscheidung zwischen "Rücknahme" und "Aufhebung" ?

 

"Aufheben" ist der Oberbegriff von a) "Rücknahme" und b) "Widerruf":

"Der gemeinsame Oberbegriff für Rücknahme und Widerruf lautet Aufhebung."

S. http://verlag.jura-intensiv.de/media/pdf/f6/5b/bb/B_Leseprobe_VerwR_AT_3-Aufl.pdf, Randnummer 175

Indem die Anweisung der BA nur die "Rücknahme" benennt und den "Widerruf" verschweigt, ist die Vorgabe der Randnummer 222 des Urteils des BVerfG zur "Aufhebung" der entsprechenden Sanktionen nur zum Teil erfasst.

 

Was das bedeutet, ergibt sich, wenn man die näheren Bestimmungen von "Rücknahme" und "Widerruf" betrachtet:

"Die Rücknahme dient grundsätzlich der Korrektur rechtswidriger Entscheidungen –

wohingegen der Widerruf auf die Anpassung eines Verwaltungsaktes an eine veränderte Sach- oder Rechtslage gerichtet ist."

S. https://rechtsanwalt-und-sozialrecht.de/ruecknahme-aufhebung-verwaltungsakt/ 

D.h.: nur rechtswidrige Entscheidungen sind "zurückzunehmen".

Wenn sich die Sach- oder Rechtslage ändert, sind Verwaltungsakte zu widerrufen.

 

Obwohl mit dem Urteil des BVerfG unanzweifelbar eine Änderung der Rechtslage stattgefunden hat, die einen Widerruf bereits verhängter Sanktionen erfordern würde, hat die BA nur eine Anweisung zur Rücknahme der Sanktionen getroffen.

 
Schon damit wird gültiges Recht gebrochen und Rn. 222 des Urteils des BVerfG unterlaufen.


Aber es kommt noch besser:

 

Für die Rücknahme gilt Randnummer 218 im Urteil BVerfG:

"1. Die Sanktionsregelungen der § 31a Abs. 1 Sätze 1, 2 und 3 und § 31b SGB II sind in den Fällen des § 31 Abs. 1 SGB II mit den tenorierten Einschränkungen weiter anwendbar. Die Übergangsregelung zu § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II orientiert sich an der Regelung in § 31a Abs. 1 Satz 6 SGB II."

Gemäß § 31b Abs. 1 Satz 5 SGB II gilt damit für eine "Korrektur" oder Neubestimmung/Neuerlass (bspw. "behördliche Nachbesserung") des Verwaltungsaktes:

"Die Feststellung der Minderung ist nur innerhalb von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt der Pflichtverletzung zulässig."

D.h.: die Rücknahme ist nur auf Sanktionen anzuwenden, die sich auf eine sog. Pflichtverletzung beziehen, die nach dem 5. Mai 2019, d.h. innerhalb einer Frist von sechs Monaten bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes getätigt worden ist, weil nur hier eine Frist von sechs Monaten ab Pflichtverletzung für eine Änderung der Höhe (bzw. neu-Feststellung der Minderung) eingehalten werden kann.

 

Ist dieser Zeitraum bereits abgelaufen, bleibt gemäß Rn. 222 nur noch der Widerruf der Sanktion als komplette Aufhebung:

"Zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung nicht bestandskräftige Bescheide über Leistungsminderungen nach § 31a Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB II, sind, soweit sie über eine Minderung in Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen, aufzuheben."

Der Widerruf - und mit ihm die vollständige Aufhebung der verfassungswidrigen Sanktionen - ist allerdings auch erst der angemessene, auf die "Anpassung eines Verwaltungsaktes an eine veränderte Sach- oder Rechtslage" (s.o.) gerichtete Schritt.

 

Indem also die BA nur die Rücknahme vorsieht,

- unterschlägt sie den Widerruf als den der Änderung der Rechtslage überhaupt nur angemessenen Teil der "Aufhebung"

- überdehnt dabei gewaltig den Rechtsrahmen der Rücknahme eines Verwaltungsaktes, indem sie die Rücknahme, ohne die 6-Monate-Frist zu beachten, auf sämtliche vor dem Urteil des BVerfG festgestellten sog. Pflichtverletzungen anwendet

- und verstößt entschieden gegen die Rn. 222 im Urteil des BVerfG.

 

So sauber und selbstlos im Sinne der Gesetze arbeitet die Behörde!

 

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Ich danke Stefan H. für die schöne Recherche;
Berlin, den 18.01.2020
Ralph Boes